Lernen trotz Gehirn? Wie du den Türsteher überlistest

Frank Lüttschwager • 25. Juni 2025

Was beim Lernen im Kopf wirklich passiert – und warum Zuhören nicht gleich Verstehen ist


🔬 Wissenschaftlich erklärt - Warum dein Gehirn filtert


Im menschlichen Gehirn wird die Masse an Reizen nicht einfach durchgelassen – sie wird gefiltert, gewichtet, sortiert. Verantwortlich dafür ist vor allem der Thalamus, eine zentrale Schaltstelle im Zwischenhirn. Er entscheidet zusammen mit anderen Arealen wie der Amygdala, welche Informationen weiterverarbeitet werden – und welche nicht.


Dieses System achtet vor allem auf:


  • Neuigkeit  
  • Emotionale Bedeutung  
  • Relevanz für das eigene Handeln  
  • Potenzielle Gefahr


Diese Filterung schützt das Gehirn vor Überlastung – und sorgt gleichzeitig dafür, dass das, was nicht relevant erscheint, stillschweigend ignoriert wird. Das betrifft nicht nur das Sehen, sondern auch das Hören.


Quellen:  

Wikipedia:  Thalamus   

Wikipedia:  Amygdala


Zweiteiliges Bild mit einem dunklen Schmetterling links und einem freundlich schauenden Tiger mit Besteck rechts – visuelle Metapher für Reizfilterung im Gehirn.

💬 Was heißt das für uns?


Wenn man sich mal überlegt, was ein Videostream an Datenrate mit sich bringt – und das ist nur ein Sinneskanal ohne Audio –, wird schnell klar: 
Das Sehen allein produziert bereits einen massiven Informationsstrom. 

Und dieser Strom trifft nicht nur gelegentlich ein – er fließt ständig. Ohne ein intelligentes Filtersystem würden wir in einem dauerhaften Overflow untergehen. 
Die Natur hat dafür eine Lösung gefunden: Sie sortiert, was für uns wichtig ist – und was nicht.

Stell dir vor
Ein Säbelzahntiger klopft dir mit der Pranke auf die Schulter. Mit Besteck in der anderen Hand. 
Diese Information schafft es durch den Filter. Garantiert.
 

Ein Schmetterling, der an deinem Auge vorbeifliegt, tut das wahrscheinlich nicht. 


Hübsch? Ja.

Neu? Vielleicht. 

 

Aber: keine Gefahr, keine Handlungsnotwendigkeit. 


Das Gehirn arbeitet nach dem Prinzip: 
„Was mich bedroht, bewegt oder betrifft – das darf rein.“ 
Alles andere bleibt draußen. 
Oder läuft auf Standbild.



Und genau das ist das Problem beim Lernen: 
Was im Unterricht gesagt wird, ist nicht automatisch relevant genug, um vom Gehirn „eingelassen“ zu werden. 
Selbst wenn wir dabei sind – wir sind oft nicht wirklich da.



Ach übrigens, aufgefallen?

Hier im Text war plötzlich die Rede von einem Säbelzahntiger. Aber im Bild – da war doch nur ein ganz normaler Tiger, oder?


Ja, genau.


Und weißt du was?

So funktioniert das mit der Reizweiterleitung. Das Wichtige bleibt hängen. Der Rest ist Kulisse.


Dein Hirn hat den Tiger gesehen – und der hatte Besteck in der Hand. Mehr Relevanz geht kaum.


Der Schmetterling? Hübsch. Aber längst vergessen...



🔬 Wissenschaftlich erklärt - Warum Zuhören nicht gleich Verstehen ist



Selbst wenn eine Information durch den „Türsteher“ Thalamus weitergeleitet wird, heißt das noch nicht, dass sie wirklich verstanden oder gespeichert wird. 
Denn die nächste Instanz im Gehirn ist nicht das Gedächtnis – sondern die Verarbeitungsebene im Kortex, also die Großhirnrinde.

Hier entscheidet sich:

  • Wird die Information mit bereits Bekanntem verknüpft? 
  • Wird sie bewusst verarbeitet – oder nur registriert? 
  • Wird sie mit Emotionen oder Handlungen verbunden?


Reine Aufnahme ist noch kein Lernen. 
Denn was nicht mit Bedeutung, Kontext oder Emotion angereichert wird, ist für das Gehirn meist wertlos – und wird nicht langfristig gespeichert. 

Vor allem beim Hören ist das problematisch: 
Wir hören schneller, als wir denken können. 

Die Reize kommen ununterbrochen – aber ohne aktive Beteiligung verpuffen sie.
 

Quellen: 
Wikipedia:  Lernen  
Wikipedia:  Aufmerksamkeit


💬 Was heißt das für uns? Zuhören allein reicht nicht. 


Denn dein Gehirn ist kein Aufnahmegerät. Es ist eher ein Konferenzzimmer mit zugiger Tür, zu wenig Stühlen – und einem Notizblock, der nur dann benutzt wird, wenn jemand sagt: 

„Das ist wichtig. Das brauchst du. Das betrifft dich.“ 

Dafür
braucht  dein Kopf einen Anker
Etwas, das sagt: Stopp – das merk ich mir. 

Dieser Anker kann vieles sein:

  • eine emotionale Verknüpfung („Das interessiert mich!“) 
  • ein praktischer Nutzen („Jetzt versteh ich das endlich!“) 
  • eine Relevanz fürs eigene Leben („Das hätte mir damals geholfen.“)



Gerade in Fächern wie Mathematik ist das entscheidend: 
Nicht jeder liebt Kurvendiskussion. 


Aber wenn ein Beispiel kommt, das du aus eigener Erfahrung kennst – vielleicht eine Situation, in der dir das Rechenwerkzeug gefehlt hat – dann ist das ein Anker


Dann hörst du anders zu. Du bist auf Empfang. 

Die Kunst des Lehrenden liegt also nicht darin, möglichst viel zu sagen – sondern die richtigen Bilder, Geschichten und Bezüge zu liefern. 


Solche, die dein System öffnen. Nicht das der ganzen Klasse.


Denn wenn du deinen persönlichen Anker setzt, entscheidest du selbst, was hängen bleibt.


🔬 Wissenschaftlich erklärt - Wie du den Türsteher überlistest – oder besser: ihn für dich arbeiten lässt 


Der
Filtermechanismus des Gehirns ist kein Feind
Er ist ein Schutzmechanismus, den wir gezielt ansprechen können, wenn wir seine Spielregeln kennen.



Was also bringt Inhalte durch die Schranke?

  1. Emotionale Bedeutung:  
    Alles, was dich berührt, aufregt, belustigt oder ängstigt, wird deutlich besser gespeichert. 
    Emotionen aktivieren das limbische System, vor allem die Amygdala. (→ <ol> oder visuelle Box mit Icons)

  2. Multisensorische Aktivierung:  
    Je mehr Sinne beteiligt sind, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass Inhalte im Gedächtnis landen. 
    → Hören, sehen, schreiben, sprechen, zeichnen – das Gehirn liebt Vielfalt.

  3. Körperliche Beteiligung:  
    Bewegung und Handlung fördern die Verankerung. 
    Schon kleine Aktivitäten wie laut vorlesen, mit dem Finger aufschreiben oder eine Skizze anfertigen reichen oft.

  4. Verknüpfung mit Bekanntem:  
    Neues Wissen wird leichter gespeichert, wenn es anknüpfen kann. 
    Das Gehirn speichert nicht linear – es arbeitet assoziativ.

  5. Selbstwirksamkeit und Motivation:  
    Wer merkt: Ich kann das!, aktiviert Belohnungssysteme. 
    Lernprozesse werden dadurch effizienter – und angenehmer.


Quellen: 
Wikipedia:  Emotion

Wikipedia:  Lernen
Wikipedia:
  Limbisches System

Wikipedia: Multisensory learning





💬 Was heißt das für uns?


Der Türsteher lässt Informationen durch – wenn du dich nicht langweilst.


Wenn du fühlst, mitmachst, verknüpfst, erlebst. 
Du kannst also den Filter nicht überreden – aber du kannst ihn reizen. 

Klingt kompliziert? Ist es nicht.

Wenn du allein zu Hause einen Text verstehen willst: 


  • Lies ihn laut vor. 
  • Fahr mit dem Finger mit. 
  • Sprich die Wörter aus. 
  • Hör dich selbst.

Dann hast du gleich mehrere Kanäle gleichzeitig aktiviert:


  • Du siehst den Text. 
  • Du sprichst ihn. 
  • Du hörst, was du sagst. 
  • Du bewegst dich.

Und, ... achte darauf, dass du alleine bist, sonst wird das peinlich ...


Das ist kein Trick – das ist Gehirn-gerechtes Arbeiten. 
Ach ja: Manchmal musst du denselben Absatz halt auch zwei- oder dreimal lesen. So what?



Was für alle gilt
Je mehr Kanäle du gleichzeitig aktivierst, desto besser. 

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.


Wenn du z. B. bei der Vektorrechnung Probleme hast, dir dreidimensionale Konstruktionen vorzustellen, hilft kein Lamentieren. 
Dann musst du die Zeichnungen eben selbst erstellen – zwei-, dreimal.  Und plötzlich entwickelt sich das räumliche Denken von innen heraus.
 

Und noch etwas – jetzt räumen wir endlich mit dem alten Märchen vom Lerntypen auf.  
Die Vorstellung, dass jeder Mensch nach einem festen „Lerntyp“ funktioniert – visuell, auditiv, kinästhetisch oder sonstwie – ist didaktisch beliebt, aber wissenschaftlich nicht haltbar.

Es gibt keinen belastbaren Nachweis, dass Menschen besser lernen, wenn der Unterricht auf ihren vermeintlichen Lerntyp abgestimmt ist. 
Tatsächlich ist es genau andersherum: 
Je mehr Sinneskanäle gleichzeitig aktiviert werden, desto besser kann dein Gehirn den Stoff aufnehmen und verarbeiten.

Und noch wichtiger: 
Es kommt auf den Inhalt an – nicht auf einen „Lerntyp“.

  • Eine Sprache lernst du, indem du sprichst und hörst. 
  • In Mathe löst du Aufgaben, zeichnest Skizzen, interpretierst Graphen. 
  • In Physik und Chemie beobachtest du Versuche, dokumentierst Messwerte und wertest Ergebnisse aus. 
  • Und in Biologie? Da pflückst du Blümchen, zählst Ameisen, fängst Schmetterlinge. 🙂 


Ja, okay, Biologie ist auch eine Naturwissenschaft – und naturwissenschaftliches Arbeiten ist auch hier Pflicht.


Was du brauchst, ist kein „Lerntyp“, sondern Zugang zum Stoff über passende Methoden – und die dürfen gerne abwechslungsreich sein.



Quellen: 


Wikipedia:  Lerntyp   
Pashler et al. (2008): *Learning Styles: Concepts and Evidence* 
DOI: [10.1111/j.1539-6053.2009.01038.x]

Deutsches Schulportal: Der Lerntypen Mythos und seine Folgen



🔗 Wenn du tiefer einsteigen willst:

Die neurologischen und psychologischen Zusammenhänge dieses Blogs sind wissenschaftlich gut belegt. Wer mehr wissen möchte, findet hier fundierte Quellen – verständlich oder direkt aus der Forschung.

(Stand: 25. Juni 2025)



Ach ja – falls du dich über das Blümchenpflücken, Ameisenzählen und Schmetterlingsfangen geärgert hast:


Ja, es war Absicht.


Und nein, es war keine Herabwürdigung.


Wer sich für Biologie interessiert, ist zurecht stolz auf ein Fach, das tief in die Naturwissenschaft eingebunden ist – mit Beobachtung, Hypothesenbildung, Experiment und Auswertung.


Aber: Die zugespitzte Formulierung lenkt den Türsteher kurz ab. Sie sorgt für emotionale Beteiligung.

Und genau darum ging’s ja die ganze Zeit.


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