Kein Maßband? Kein Problem. Frag Niels Bohr.
Wie zwei Schüler die Weite eines Sprungs bestimmten – und was das mit Physik, Strahlensätzen und einem Barometer zu tun hat.
Zwei Jugendliche stehen in der Sandgrube eines alten Sportplatzes. Kein Lehrer weit und breit, kein Wettkampf – einfach nur Neugier und der Ehrgeiz, etwas herauszufinden.
Der Sprung war gut. Weit. Richtig weit. Aber wie weit genau?
Ein Maßband haben sie nicht dabei. Auch keinen Zollstock. Nur einen ziemlich geraden Ast, der irgendwo in der Nähe liegt.
Und damit beginnt eine kleine mathematische Detektivarbeit – ganz ohne Schulbuch, aber mit gesundem Menschenverstand.

Und jetzt?
Wie misst man denn eigentlich so einen Sprung?
Ein Maßband wäre praktisch. Ein Zollstock auch. Aber beides liegt zu Hause in der Schublade. Was also tun?
Die Sandspur ist deutlich zu sehen. Der Sprung war weit – das steht außer Frage. Nur die Zahl fehlt. Und genau da beginnt die eigentliche Denkarbeit.
Eine alte Geschichte – und ein kluger Kopf
Der Physiker Niels Bohr soll in seiner Abschlussprüfung einmal gefragt worden sein:
„Wie kann man mit einem Barometer die Höhe eines Turms bestimmen?“
Die erwartete Antwort war simpel: Man misst den Luftdruck unten und oben – und berechnet die Höhe über die barometrische Höhenformel. Aber Bohr gab diese Antwort nicht.
Stattdessen antwortete er mit einer ganzen Reihe völlig anderer – aber physikalisch-mathematisch mehr oder weniger fundierter – Methoden. Jede davon funktionierte, wenn man nur wusste, wie:
- Er schlug vor, den Barometer an einer Schnur herabzulassen und einfach die Länge der Schnur zu messen.
- Oder den Barometer vom Turm fallen zu lassen und aus der Fallzeit die Höhe zu berechnen.
- Oder mit Hilfe von Schattenlängen über den Strahlensatz die Höhe zu bestimmen.
- Oder – ganz pragmatisch – dem Hausmeister einen neuen Barometer zu schenken, wenn er im Gegenzug die Turmhöhe verrät.
- Und schließlich erwähnte er noch die Möglichkeit, die Pendelzeit des Barometers zu messen, um aus der minimalen Veränderung der Erdanziehung die Höhe abzuleiten.
Erst als man ihm androhte, ihn durchfallen zu lassen, nannte er die klassische Antwort mit der barometrischen Formel.
Methode 1: Luftdruckdifferenz messen
Die klassische Lösung: Man misst den Luftdruck am Fuß des Turms p₁ und an der Spitze p₂. Aus der Druckdifferenz ergibt sich die Höhe über die barometrische Höhenformel.
Grenzen: Diese Methode setzt ein hochpräzises Barometer voraus. Die Temperatur T und die Zusammensetzung der Luft (Molmasse M ) müssen bekannt sein. Kleine Messfehler bei p₁ und p₂ führen leicht zu großen Abweichungen in der berechneten Höhe.
Möglichkeiten: Theoretisch sehr genau – in der Praxis aber nur sinnvoll, wenn alle Umgebungsvariablen kontrolliert werden können. Für schulische Zwecke ungeeignet, in der Höhenmeteorologie dagegen bis heute relevant.
Grenzen: Diese Methode setzt ein hochpräzises Barometer voraus. Die Temperatur T und die Zusammensetzung der Luft (Molmasse M ) müssen bekannt sein. Aufgrund des logarithmischen Zusammenhangs ist die Methode bei kleinen Höhen (unter 150 m) extrem empfindlich gegenüber Messfehlern – Druckschwankungen, Rundungsfehler oder Temperatursprünge führen schnell zu unbrauchbaren Ergebnissen.
Methode 2: Barometer an einer Schnur herunterlassen
Der Barometer wird mit einer Schnur befestigt und vorsichtig vom Turm herabgelassen. Sobald er den Boden berührt, misst man die Länge der abgerollten Schnur – das entspricht der Turmhöhe.
Formel: Keine – direkte Längenmessung. Die gemessene Schnurlänge ist gleich der gesuchten Höhe:
Möglichkeiten: Die Methode ist einfach, anschaulich und unmittelbar verständlich. Sie kommt völlig ohne Rechnungen aus – und liefert bei sauberer Durchführung ein erstaunlich genaues Ergebnis.
Grenzen: Die Schnur muss mindestens so lang sein wie der Turm hoch ist – und straff hängen. Wind, Verdrehen oder ein nicht senkrechter Verlauf der Schnur können das Ergebnis verfälschen. Für große Höhen ist außerdem ein sicheres Handling erforderlich.
Methode 3: Barometer fallen lassen und Fallzeit messen

Bohr lässt das Barometer vom Turm fallen – und misst die Fallzeit. Daraus lässt sich die Höhe mit dem freien Fallgesetz abschätzen.
Mit g als Fallbeschleunigung (≈ 9,81 m/s²) und t als gemessener Fallzeit.
Möglichkeiten: Funktioniert in der Theorie – mit genauer Zeitmessung (z. B. mit Lichtschranke) kann man die Fallhöhe durchaus berechnen.
Grenzen: Reproduzierbarkeit? Schwierig. Ohne Lichtschranke ist die Zeitmessung per Hand extrem ungenau.
Und: Natürlich ließe sich die Methode mehrfach anwenden – Barometer für Barometer. Mit zunehmender Anzahl an Barometern unter dem Turm verändert sich allerdings die gemessene Fallzeit.
Messgenauigkeit? Sinkt proportional zum Barometerberg.
Methode 4: Schattenlängen vergleichen

Man stellt den Barometer senkrecht in die Sonne und misst die Länge seines Schattens. Gleichzeitig misst man den Schatten des Turms. Aus dem Verhältnis ergibt sich die Höhe des Turms durch einfache geometrische Ähnlichkeit.
Dabei ist H die Höhe des Turms, S sein Schatten, h die Höhe des Barometers und s dessen Schatten.
Möglichkeiten: Die Methode ist einfach, zerstörungsfrei und anschaulich. Sie lässt sich mit grundlegender Geometrie exakt nachvollziehen – bei günstiger Sonneneinstrahlung sogar mit beachtlicher Genauigkeit.
Grenzen: Die Genauigkeit hängt stark von Lichtverhältnissen, exakter Senkrechtstellung des Barometers und ebenem Untergrund ab. Zerstreutes Licht, ungleichmäßiger Boden oder ein zu kurzer Turmschatten können das Ergebnis verfälschen.
Methode 5: Den Hausmeister fragen
Bohrs pragmatischer Vorschlag: Man bietet dem Hausmeister einen schönen neuen Barometer an – und bekommt dafür im Gegenzug einfach die Höhe des Turms genannt.
Möglichkeiten: Schnell, effizient, materialschonend. Die Methode liefert ein zuverlässiges Ergebnis, sofern der Hausmeister vertrauenswürdig und die Höhe bekannt ist. Keine Rechnung erforderlich.
Grenzen: Fachlich betrachtet keine Messmethode, sondern ein Tauschgeschäft. Für Prüfungen ungeeignet – für das echte Leben manchmal Gold wert.
Man muss nicht immer alles wissen. Aber man muss wissen, wen man fragen kann.
Methode 6: Pendelzeit messen
Man verwendet den Barometer als Fadenpendel und misst die Schwingungsdauer T einmal am Boden, einmal oben auf dem Turm. Da die Schwerebeschleunigung g mit der Höhe minimal abnimmt, verändert sich auch T. Daraus lässt sich der Höhenunterschied theoretisch bestimmen.
Möglichkeiten: Physikalisch korrekt – die Methode basiert auf dem Zusammenhang zwischen Fallbeschleunigung und Pendelperiode. Bei sehr empfindlicher Messtechnik lassen sich Höhenunterschiede auf diese Weise tatsächlich bestimmen.
Grenzen: Die Änderung von g mit der Höhe ist verschwindend gering: Bei 50 m Höhenunterschied liegt der Unterschied bei weniger als 0,02 %. Der Effekt ist mit einfachen Mitteln praktisch nicht messbar.
Kurz gesagt: Eine Methode für Theoretiker – oder für Leute mit sehr viel Zeit und sehr genauen Uhren.
Methode 7: Die Barometerkette

Wenn man ausreichend viele Barometer besitzt – warum nicht daraus einfach eine Kette bauen? Bohr lässt die Barometergirlande vom Turm herabbaumeln und zählt nach, wie viele es bis zum Boden braucht. Jedes Barometer ist gleich lang – also ist das Ergebnis im Prinzip eine ganz klassische Längenmessung.
Möglichkeiten: Diese Methode ist erstaunlich direkt, erfordert weder Formeln noch physikalisches Wissen. Und sie liefert sogar eine visuell anschauliche Lösung – mit dezenter Dekowirkung.
Grenzen: Bruchsicher sollten die Barometer allerdings sein. Und wer schon mit der Fallzeit versucht hat, die Turmhöhe zu bestimmen, ist vermutlich auf einen kleinen Denkfehler hereingefallen.
Und was zeigt uns das alles?
Niels Bohr wusste natürlich ganz genau, wie man die Höhe eines Turms mit einem Barometer physikalisch korrekt berechnet. Er kannte die barometrische Höhenformel, er kannte die physikalischen Konstanten – und er hätte die erwartete Antwort problemlos geben können.
Aber er tat es nicht.
Stattdessen führte er eine ganze Reihe anderer Möglichkeiten auf. Einige davon waren rein theoretischer Natur – durchdacht, aber im Alltag kaum umsetzbar. Andere waren ausgesprochen bodenständig, fast banal. Und mindestens eine war schlicht ein sozialer Trick. Keine dieser Lösungen folgte dem klassischen Erwartungshorizont. Und genau das war die Botschaft.
Bohr zeigte damit, was echtes Verständnis bedeutet: Er dachte nicht in vorgefertigten Mustern. Er zeigte, dass man Regeln nur wirklich beherrscht, wenn man sie bewusst hinterfragen – und im richtigen Moment auch mal überschreiten kann.
Und das ist vielleicht die wichtigste Lehre überhaupt. Nicht nur in der Physik. Sondern überall, wo Denken gefragt ist.
Ich sage das auch meinen Schülern und Schülerinnen:
Man muss nicht immer das tun, was im Lehrbuch steht.
Manchmal muss man auf die alten Lösungswege pfeifen – und den Mut haben, einen eigenen zu gehen.
Vielleicht liegt darin die eigentliche Intelligenz: die Fähigkeit, Dinge anders zu denken.
Zurück auf den Sportplatz
Das Beispiel mit dem Ast ist zugegeben kein Geniestreich. Man hätte durchaus selbst darauf kommen können:
- Stock nehmen, mehrfach hintereinander in die Sandgrube legen,
- das Reststück markieren,
- zu Hause mit Maßband nachmessen,
- fertig.
Und doch steckt darin eine ganze Menge. Denn wer so denkt, denkt eben nicht automatisch in Schulaufgaben oder vorgefertigten Rechenwegen. Er denkt in Möglichkeiten.
Natürlich hätte man den Sprung auch abschreiten können – vorausgesetzt, man kennt seine eigene Schrittlänge und trifft jeden Schritt millimetergenau.
Oder man hätte mit Sonnenstand und Schattenlängen arbeiten können, Strahlensatz inklusive.
Oder – der Vollständigkeit halber – man hätte auch mehrere Barometer, schönen Gruß an Nils B., nebeneinanderlegen können.
Aber all das wäre umständlicher gewesen.
Der Ast war da. Die Idee war naheliegend. Und genau deshalb war sie gut. Sie war nicht vorgegeben – sie wurde entwickelt.
Manchmal ist die pragmatischste Lösung auch die beste.
Man muss eben auch manchmal einfach denken können – obwohl … das ist oft schon schwer genug.
Warum diese absurden Bilder?
Weil sie wirken. Unser Gehirn reagiert auf Überraschung, Humor und Visualität. Genau deshalb zeige ich in meinen Blogartikeln manchmal absurde, aber physikalisch, chemisch oder mathematisch denkbare Situationen – wie z. B. in meinem Beitrag über das Lernen trotz Gehirn. Ich hoffe sie bringen einen zum Schmunzeln – und genau deshalb bleiben sie hängen.
Und das hat Methode. Ich bin promovierter Chemiker. Ich denke gerne um die Ecke. Und ja – mir sind solche Ideen tatsächlich schon im Unterricht eingefallen. Mehrfach. Spontan. Und immer mit bestätigtem negativem Drogentest.
Aber im Ernst: Wer mitdenkt, lacht, hinterfragt – der lernt. Ich will nicht, dass Schüler einfach nur Formeln auswendig lernen. Ich will, dass sie anfangen, selbst zu denken. Genau das versuche ich in meiner Nachhilfe Mathe für Schüler und Schülerinnen – Nachhilfe Chemie für Schüler und Schülerinnen genauso wie in der Chemie-Vorbereitung fürs Medizinstudium. Und genau das spiegelt sich auch in meinen Artikeln.
Transparenzhinweis:
Niemand hat die Absicht, Barometer kaputtzuschmeißen – aber um unkonventionelles Denken in den Naturwissenschaften zu veranschaulichen, konnte ich dieses Beispiel einfach nicht liegen lassen.
Wie immer hat ChatGPT beim Ausformulieren und Korrekturlesen geholfen – und Sora hat gezeichnet.