Operatoren im Mathe-Abitur NRW: Wenn die Aufgabe klar ist, aber die Sprache nicht
Berechnen. Ermitteln! Verzweifeln ...

Manche sagen, Mathematik sei eine exakte Wissenschaft.
Stimmt – bis man die Operatorenliste in der Hand hält.
Plötzlich geht es nicht mehr nur um Ableitungen, Gleichungen oder Nullstellen.
Sondern um die Frage: Was genau will die Aufgabe eigentlich von mir?
Muss ich das jetzt berechnen, ermitteln, erläutern?
Und wenn ja – wie viel Text ist genug? Wie viel Mathematik reicht?
Was ist das Problem?
Du weißt, wie man eine Funktion ableitet. Du kannst sie skizzieren. Oder zeichnen. Oder darstellen.
Aber wehe, du erwischst den falschen Operator.
- Skizzieren heißt: grob, richtig, aber nicht maßstabsgetreu.
- Zeichnen heißt: bitte exakt, gerne mit Geodreieck.
- Darstellen heißt: irgendwo dazwischen – vielleicht mit Satz.
- Erläutern? Das ist erklären – aber schön ordentlich bitte.
Zwei Theorien, warum es diese Listen überhaupt gibt
1. Die juristische Variante:
In einer Welt voller Einsprüche, Klagen und Widersprüche muss natürlich auch eine Abituraufgabe gerichtsfest
formuliert sein.
Damit später kein Anwalt sagen kann: „Mein Mandant wusste nicht, was skizzieren
bedeutet.“
Es erinnert ein bisschen an das Haus, das Verrückte macht: Passierschein A38 inklusive.
2. Die unfreiwillig-komische Variante:
Wenn der mathematische Anspruch schon sinkt, muss wenigstens der sprachliche steigen.
Also wird die Aufgabenstellung sprachlich so verpackt, dass der Schüler sie erst gar nicht richtig versteht.
Sonst löst der die Aufgabe nachher – vielleicht sogar noch.
Früher ging’s auch – ohne Schritt-für-Schritt-Anleitung
Vor langer Zeit – als noch alles gut war (Ende der Selbstironie) – stellte man in Mathe-Abiturklausuren Aufgaben wie:
Gegeben sei f(x) = x · e –x mit x ∈ ℝ.
Berechne die Nullstelle der Wendetangente.
Fertig. Kein weiterer Hinweis. Kein Operator. Kein Unterpunkt a) bis g).
Die Aufgabe war klar, anspruchsvoll – und man musste selbst überlegen, wie man vorgeht.
(Und ja: Auch bei uns damals haben vielleicht 30 % nicht gewusst, was „x ∈ ℝ“ bedeutet.)
Heute zerfällt dieselbe Aufgabe in eine Parade aus Einzelaufträgen:
- Berechne die erste Ableitung.
- Berechne die zweite Ableitung.
- Ermittle die Nullstelle der zweiten Ableitung.
- Prüfe mit der dritten Ableitung, ob es sich um eine Wendestelle handeln kann.
- Berechne den Funktionswert der Ableitung an der Wendestelle.
- Berechne den Funktionswert der Funktion an der Wendestelle.
- Ermittle mit Punkt und Steigung die Tangentengleichung.
- Berechne die Nullstelle dieser Tangente.
Okay, zugegeben: Das ist überspitzt.
Ganz so kleinteilig wird es (noch) nicht gestellt.
Aber die Tendenz ist klar: Die Aufgaben werden enger geführt als früher.
Warum eigentlich?
Traut man den Schülern nicht mehr zu, selbst zu erkennen, was zu tun ist?
Sind die Operatoren dazu da, damit man nicht immer nur „Berechne“ schreiben muss?
Gebt den Schülern ruhig mal was zum Kauen.
Die können das.
Man muss es ihnen aber zutrauen.
Wenn wir ihnen selbst das Denken in der Prüfung abnehmen,
dann bilden wir keine Studienanfänger mehr aus,
sondern Schüler, die gut im Abarbeiten sind –
aber nicht im Lösen neuer, komplexer Probleme.
Aber: Nicht alles ist Quatsch.
Es macht schon einen Unterschied, ob ich eine technische Zeichnung anfertige oder eine Skizze zum groben Verständnis.
Und es ist sinnvoll, Schülern zu sagen, was genau von ihnen erwartet wird.
Was nervt, ist die pädagogische Überregulierung.
Man kann eben auch zu viel absichern – bis keiner mehr weiß, worum’s ursprünglich ging.
Ich kritisiere nicht, weil ich grundsätzlich dagegen bin – sondern weil ich für etwas bin:
für Klarheit, Augenmaß und Mathematik, die auch im Abi noch wie Mathematik aussieht.
Wir haben viele tausend Mathelehrer, die demnächst Abitur korrigieren,
die ganz genau wissen, was fachlich richtig ist –
und in welcher Situation unsere Schüler während der Prüfung sind.
Die werden wahrscheinlich trotzdem, auch wenn der Operator mal falsch verstanden wurde, eine richtige Aufgabe nicht einfach durchstreichen.
Hinweis: Idee, Inhalt und Haltung stammen vom Autor. Bei der sprachlichen Glättung und der Illustration kam KI-gestützte Hilfe durch ChatGPT zum Einsatz.